Begrüssung zur Veranstaltung «Social-Media, alles was Recht ist»
Sie kennen sicher alle die Geschichte vom Dornröschen. Das Dornröschen hat sich an seinem 15. Geburtstag — und das Alter ist natürlich kein Zufall — mit der Spindel in den Finger gestochen. Und warum? Klar: Weil es gar nicht gewusst hat, was eine Spindel ist, und weil es gar nicht gewusst hat, welche Gefahr von dieser Spindel ausgegangen ist. Das kann unseren Teenagern von heute im Umgang mit Social Media also nicht passieren: Sie sind ja alle «Digital Natives» — oder sind sie vielleicht doch eher digital naiv? Oder ist es vielleicht so, dass das eine das andere eben nicht ausschliesst?
Wer etwas genauer hinschaut und im regelmässigen Kontakt mit jungen Leuten steht, weiss, dass man von der technischen Reife eines jungen Menschen nicht auf seine menschliche Reife schliessen darf. Ja, wie soll das auch gehen? Wenn es etwas gibt, das der Evolution der letzten 4 Millionen Jahre ja so etwas von egal ist, dann ist das die digitale Revolution der letzten 20 Jahre.
Frontallappen, so wird der Gehirnbereich unmittelbar hinter der Stirn genannt. Dort haben Fähigkeiten wie Selbstkontrolle, Urteilsvermögen und Organisation ihren Sitz. Beim Erwachsenen wirkt der Frontallappen wie ein «Aufpasser». Dort werden Impulse gedämpft und das logische Denken gesteuert. Der Frontallappen erlebt im Pubertätsalter einen zweiten Wachstumsschub und ist erst etwa im 20. Lebensjahr fertig ausgebildet. Deshalb fehlt den Jugendlichen diese emotionale Bremse, was zu ihrem oft unberechenbaren Verhalten führt — auch im Bereich von Social Media. Kurz und bündig: Auch der «Digital Native» ist und bleibt in der Pubertät ein «Frontal-Lappi».
Wir dürfen jetzt nur nicht den Fehler machen und diese neurowissenschaftliche Erklärung für jugendliches Fehlverhalten mit einer Entschuldigung des jugendlichen Fehlverhaltens zu verwechseln. Das wäre grundfalsch. Ich erspare Ihnen eine rechtsphilosophische Debatte, aber das Recht auf Strafe — und es ist wirklich ein Recht — haben auch Jugendliche. Und wir sind den Jugendlichen dieses Recht auch schuldig. Leider, wenn ich die Berichte der Jugendanwaltschaft lese, stelle ich fest, dass immer mehr Eltern ihren straffälligen Teenagern gerade dieses so wichtige Recht verweigern. Das ist eine Tragödie, aber nicht unser heutiges Thema. Klammer geschlossen.
Nein, ich bin der Auffassung, dass uns die Hirnforschung vor allem darauf hinweist, dass unsere Teenager unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen. Mit Social Media haben sie ein ganz neues Mittel in den Händen. Wir mussten uns noch irgendwo treffen, um über andere zu lästern. Heute ist das nicht mehr der Fall. Und Social Media haben auch keinen Alkohol. Leider, ist man versucht zu sagen. Social Media verursachen keine Übelkeit beim Übeltäter — nur beim Opfer. Die heutigen Frontal-Lappis haben mit den Möglichkeiten von Social Media sozusagen eine mobile «Fernseh-Radio-Telefon-Kino-Computer-Station» im Hosensack … mit anderen Worten: eine kommunikationstechnologisch eierlegende Wollmilchsau.
Damit lässt sich viel Schönes, aber auch viel Dummes und — das ist leider so — viel Leidvolles anstellen.
Teenager suchen ihre Grenzen. Ich muss Ihnen, viele von Ihnen sind erfahrene Leiterinnen und Leiter, nicht erklären, dass wir den Teenagern keinen Gefallen tun, wenn wir ihnen diese Grenzen nicht immer wieder aufzeigen. Mit viel Liebe und Geduld. Mit viel Verständnis, aber auch mit Entschlossenheit und Ausdauer.
Und gestatten Sie mir noch einen Gedanken zum Schluss: Für sehr viele Jugendlichen bedeutet es schlicht und einfach auch Stress, diese eierlegende Wollmilchsau die ganze Zeit im Hosensack zu haben. Ich kenne Beispiele von Jugendlagern, wo man den Jugendlichen hilft, diesen Stress abzubauen. Indem die Handys ganz zu Hause gelassen werden, oder indem, dass der Gebrauch stark eingeschränkt wird. Das ist nicht die Lösung für den Alltag — Dornröschen lässt grüssen. Aber für den gezielten Stressabbau sind das gute Lösungen. Und viele Teenager sind am Schluss sogar dankbar dafür. Wenigsten insgeheim, aber das ist auch das Maximum, was wir von einem echten Frontal-Lappi erwarten dürfen.
Herzlich willkommen, ich freue mich auf den heutigen Abend mit Ihnen!