Ich möchte mich vorab recht herzlich für Ihre Einladung und Ihr zahlreiches Erscheinen bedanken. Es ist mir eine grosse Freude und auch eine grosse Ehre, hier in Walchwil an der 1. Augustfeier vor so grossem Publikum die Festansprache halten zu dürfen. Ihre Einladung freut mich umso mehr, als ich bereits in meinem ersten Amtsjahr als Regierungsrat eine so wichtige Ansprache halten darf.

Heute feiern die Leute im ganzen Land den Geburtstag der Schweiz. Das wird zwar in jeder Gemeinde ein bisschen anders gemacht, aber überall macht man dies in grosser Dankbarkeit. Dankbar dafür, dass wir in einem so schönen und so erfolgreichen Land leben dürfen. Aber auch dankbar dafür, dass wir in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit leben dürfen.

Niemand von uns kann etwas dafür, dass er in der Schweiz auf die Welt gekommen ist. Oder dass es die Schweiz schon seit 720 Jahren gibt. Aber es trotzdem ist es richtig, dass wir den Geburtstag der Schweiz feiern. Es geht bei keinem Geburtstagsfest darum zu feiern, weil man etwas dafür könnte. Geburtstage sind willkommene Gelegenheiten sich mit Familie und Freunden zu treffen. Gefeiert wird gemeinsam. An Geburtstagsfesten diskutiert man gerne, woher man kommt, wo man im Moment steht, und was die Zukunft bringen wird.

Ganz sicher haben Sie das an der heutigen 1. Augustfeier «im grossen Freundes- und Familienkreis hier auf dem Festplatz» auch schon getan – oder Sie werden es noch tun: Diskutieren über unsere Schweiz, was ihre Wurzeln sind, wo sie heute steht und was die Zukunft bringen wird. Gewiss erwarten Sie von einer Festansprache dasselbe. Darum habe ich mir zu diesen Fragen Gedanken gemacht. Das sind zwar «nur» ganz persönliche Gedanken, aber sie sind mir sehr wichtig.

Liebe Walchwilerinnen, liebe Walchwiler, ich habe am Anfang gesagt, wir feiern den Geburtstag der Schweiz – das ist relativ unpräzise. Um ganz genau zu sein, müsste man sagen, wir feiern den 720. Geburtstag der Eidgenossenschaft.

720 Jahre sind eine unwahrscheinlich lange Zeit. In dieser Zeit hat sich die Eidgenossenschaft stark gewandelt. Es kann also keinesfalls darum gehen, am heutigen Abend die Schweiz von 1291 zu feiern. Umso weniger, weil diese ja nur aus Uri, Schwyz und Unterwalden bestanden hat. Der Kanton Zug kam erst gut 60 Jahre später dazu. Die alte Eidgenossenschaft gibt es nicht mehr. Heute leben wir den bundesstaatlichen Strukturen von 1848. Aber bei allem Wandel gibt es einen Kerngehalt. Einen Kerngehalt, der über die ganze Zeit von 720 Jahren unverändert geblieben ist. Und auf den wollen wir uns heute besinnen. Die Frage ist nur: Was ist dieser Kerngehalt? Woraus besteht er?

Für mich stehen zwei Aspekte im Vordergrund, die von 1291 bis zum heutigen Tag den Kerngehalt der Eidgenossenschaft ausmachen: Demokratie und Unabhängigkeit. Die Eidgenossen haben sich geschworen, gemeinsam für Demokratie und Unabhängigkeit zu kämpfen. So steht es auch im Bundesbrief geschrieben. Die Eidgenossen wollten weder fremden Herren noch fremde Richter dulden. Und sie schworen sich bei militärischer Bedrohung gegenseitig beizustehen.

Demokratie und Unabhängigkeit: Diese zwei Werte sind wie ein Samenkorn. Nachdem das Samenkorn einmal gepflanzt war, ist mit der Zeit ein Baum gewachsen. Der Baum hat Äste ausgebildet, die Früchte tragen. Heute heissen diese Früchte Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Selbstverständlich war die Schweiz im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich demokratisch: Die Volksrechte zum Beispiel haben sich erst in den letzten zwei Jahrhunderten ausgebildet. Und selbstverständlich war die Schweiz im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich unabhängig: 1798 beispielsweise wurde die Eidgenossenschaft für fünf Jahre von Napoleon besetzt.

Aber auch nach all diesen Umbrüchen und Rückschlägen hat der Baum immer wieder neue Äste ausgetrieben. Und die sind immer nach dem Saatgut gekommen: in Richtung Demokratie und Unabhängigkeit. Heute trägt der Baum reiche Früchte: Freiheit – Wohlstand – Sicherheit. Und weil wir diese Früchte geniessen können, geht es uns heute gut. Dafür haben wir auch Grund unseren Vorfahren dankbar zu sein. Es waren die Schweizerinnen und Schweizer aller Generationen vor uns, die immer den Willen hatten, für Demokratie und Unabhängigkeit zu kämpfen; die immer dafür geschaut haben, dass die Äste des Baumes in die richtige Richtung spriessen.

Liebe Walchwilerinnen und Walchwiler, zu diesen drei Früchten, die aus dem Saatgut von 1291 hervorgegangen sind und von denen wir heute profitieren, möchte ich Ihnen ein paar Gedanken ausführen.

Die Freiheit ist ein wichtiger Rohstoff. Sie macht die Bürger zufrieden, sie hält den Staat schlank und sie lässt der Wirtschaft Raum für Entwicklung. Die Schweiz ist auch heute noch ein Land, in dem der Bürger bemerkenswert frei leben kann. Dies obwohl die Regulierung gerade in den letzten beiden Jahrzehnten stark zugenommen hat. Im Grundsatz ist der Bürger nämlich frei, beschnitten werden kann seine Freiheit nur durch den Staat. Man kann es verkürzt so auf den Punkt bringen: Während dem Bürger alles erlaubt ist, was nicht vom Gesetz verboten ist, ist dem Staat nichts erlaubt, ausser das, wozu er per Gesetz ermächtigt wurde. Für die Bewahrung der Freiheit ist somit absolut entscheidend, wer bei der Gesetzgebung das letzte Wort hat; wer der Souverän ist.

In der Schweiz kann der Bürger gegen jedes Gesetz, das seine Politiker erlassen wollen, die Notbremse ziehen. Nirgends sonst auf der Welt verfügt der Bürger im Kampf gegen Regulierungen über solch weitgehende Kompetenzen. Diese müssen nicht einmal permanent angewendet werden, es reicht vielfach schon die Androhung und das blosse Vorhandensein. Die direkte Demokratie ist die schärfste Waffe des Bürgers gegen Regulierung.

Die direkte Demokratie ist eine ureidgenössische Errungenschaft und gründet auf dem Saatgut der Unabhängigkeit und der Demokratie. Nur ein unabhängiger Staat kann seine Gesetze selber bestimmen. Und nur ein Staat, der nach immer mehr Demokratie strebt, kann überhaupt die direkte Demokratie einführen.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es ist keineswegs so, dass die Politiker aus bösem Willen die Freiheit des Bürgers beschneiden wollen. Vielfach ist es für die Politiker gar nicht so einfach “nichts zu tun” und kein neues Gesetz zu erlassen. Kein Gesetz zu machen, heisst nämlich in erster Linie, Eigenverantwortung der Bürger einfordern – und das braucht Mut. In dieser Hinsicht hat das Volk in der Vergangenheit oft mutiger entschieden als die Politiker!

Volksrechte bringen auch Volkspflichten mit sich. Freiheit ist nie ohne Verantwortung zu haben. Wer die Möglichkeit hat mitzureden, der ist auch mitverantwortlich. In einer direkten Demokratie kann man nicht nur die Faust im Sack machen und über «die dort oben» fluchen. Genau deshalb ist die Schweiz auch stabiler und ruhiger als andere Länder.

Und damit, liebe Walchwilerinnen und Walchwiler, bin ich beim zweiten Stichwort angekommen: dem Wohlstand.

Die Stabilität der Schweiz ist von entscheidender Bedeutung für unseren Wohlstand. Nur in stabilen Verhältnissen sind die Bürger bereit zu sparen. Nur in stabilen Verhältnissen sind die Firmen bereit zu investieren. Das System der Schweiz wird oft als starr und langsam bezeichnet. Oft wird dafür die direkte Demokratie verantwortlich gemacht. Ich bin kein Anhänger von Erstarrung und Langsamkeit. In der Privatwirtschaft wären solche Untugenden der sichere Weg in den Konkurs. Aber ein Staat hat andere Aufgaben als eine Firma. Beim Staat reicht es, vorsichtig und stabil zu sein.

Man sagt oft, dass das Vertrauen in den Staat und in seine wirtschaftliche Entwicklung sich in seiner Währung widerspiegle. Ich war bis gestern ferienhalber für eine Woche in Wien – aber keine Angst, ich will Ihnen jetzt nicht irgendwelche plumpen Geschichten über den Kurszerfall des Euro erzählen. Es ist für die Schweiz schliesslich kein Vorteil, wenn das Vertrauen in die staatliche und wirtschaftliche Entwicklung in unseren Nachbarländern derart abnimmt. Nein, in Wien habe ich an einem Abend tatsächlich einen Zehnräppler auf dem Boden gefunden. Dieser wurde vermutlich von irgend einem anderen Schweizer dort verloren. Haben Sie gewusst, dass der Zehnräppler, so wie wir ihn heute im Portemonnaie herumtragen, genau der gleiche ist, wie er seit 1879 geprägt wird? Unter allen sich im Umlauf befindlichen Münzen weltweit ist er mit Abstand die älteste, die bis heute mit gleichem Motiv und gleicher Legierung hergestellt wird. Stellen Sie sich nur vor, wieviele Wirtschaftskrisen und Weltkriege seither stattgefunden haben. Wieviele Länder in dieser Zeit ihre Währungen verloren oder entwertet haben. Aber hier in der Schweiz wird seit über 130 Jahren immer noch die gleiche Münze geprägt, weil es noch nie einen Grund gegeben hat, sie zu ändern. Das ist für mich Ausdruck von Stabilität; und nicht etwa von Erstarrung oder Langsamkeit.

Es ist aber nicht nur die direkte Demokratie, die zur Stabilität beiträgt. Auch das Saatgut der Unabhängigkeit ist mitverantwortlich. Mit dem Willen zur Unabhängigkeit ist nämlich auch der Wille zur Kleinheit verbunden. Kleinräumige Gebilde sind stabiler und weniger verletzlich als grosse. Das Streben nach Unabhängigkeit ist aber auch ein wirtschaftlicher Vorteil der zu mehr Wohlstand beiträgt, weil wir so bessere Gesetze machen können als unsere Nachbarn oder Konkurrenten im Standortwettbewerb. Ich denke da an Regelungen in den Bereichen Steuern, Pensionsalter oder Arbeitsmarkt.

Liebe Walchwilerinnen, liebe Walchwiler, ich komme zur letzten Frucht, die aus unserem Saatkorn von Demokratie und Unabhängigkeit gesprossen ist: die Sicherheit.

Die Demokratie ist die friedlichste aller Staatsformen. Noch nie in der Geschichte hat eine Demokratie gegen eine andere Demokratie Krieg geführt. Das ist darauf zurückzuführen, dass das Volk viel kriegsmüder ist, als es die Regierungen sind. In der Schweiz ist es sogar seit der verheerenden Niederlage von 1515 bei Marignano demokratisch mehrfach abgesegneter Wille des Volkes, dass die Schweiz neutral ist und sich zu rein defensiven Zwecken bewaffnet. Das Saatgut der Demokratie ist zwar per se schon friedensfördernd. Aber leider reicht es nicht aus, da auch Demokratien angegriffen werden können. Ohne die Androhung von defensiver Gewalt nützt die Neutralität nichts.

Die eigene Bewaffnung durch ein Bündnis zu ersetzen ist aus meiner Sicht kein geeigneter Weg. Bündnisse lassen sich demokratisch weniger gut kontrollieren. In ihnen sind wieder primär die Regierungen am Werk, ohne dass die Völker bei der Ausgestaltung des Bündnisses mitbestimmen könnten. Zudem kann niemand in einem Bündnis sein, ohne dass auch er Soldaten in den Einsatz irgendwo auf der Welt schicken müsste. 2002 sagte der deutsche Verteididungsminister, als er zum ersten Mal Soldaten für die NATO nach Afghanistan schicken musste: «Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt». Das ist, meine Damen und Herren, die Sprache, wie sie in Militär-Bündnissen gesprochen wird.

Objektiv sind wir eines der sichersten Länder der Welt. Kaum ein anderes Volk hatte in den letzten Jahrhunderten so wenig Kriegstote zu beklagen wie die Schweiz. Ich bin überzeugt, dass auch unsere Sicherheit eine Frucht der Saatkörner Demokratie und Unabhängigkeit ist.

Liebe Walchwilerinnen und liebe Walchwiler, das waren meine Gedanken zu den Wurzeln der Schweiz, und wieso es diese Wurzeln meiner Meinung nach wert sind, gefeiert zu werden.

Mein Fazit ist wie folgt: Wir leben in einem grossartigen Land. Wir sind im Genuss von Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Dafür dürfen, ja sollten wir dankbar sein. Ganz sicher wird sich die Schweiz auch in Zukunft ändern. Die Veränderungen werden sogar noch schneller vonstatten gehen als bisher. Und Sie alle, als Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, werden dazu immer wieder eine Meinung haben müssen. Sie werden sich immer wieder entscheiden müssen, von welchen Werten Sie sich leiten lassen beim Pflegen des Baumes, der seit 720 Jahren am wachsen ist.

Zum Schluss wünsche ich Ihnen allen eine schönen Fortgang dieser 1. August-Feier und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

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