(23.6.20, Festrede an der Diplomfeier der PH Zug)

«Es gibt keinen Urlaub von der Zeit», schrieb Max Frisch in sein Tagebuch. Er ärgerte sich anfangs Krieg über fadenscheinige Urlaubsgesuche seiner Kameraden.

Dass es keinen Urlaub von der Zeit gibt, haben wir in den vergangenen Wochen eindrücklich am eigenen Leib erfahren dürfen … oder vielmehr: müssen. Es gab und gibt keinen Urlaub vom Coronavirus. Wir haben uns aber zumindest ein wenig an die neue Normalität gewöhnt und finden nach und nach – so auch heute mit dieser Feier – neue Wege, um mit dem Coronavirus umzugehen. Wir mussten in den vergangenen Wochen die Situation immer wieder analysieren und unsere Entscheide abwägen.

Abwägen ist das richtige Bild. Abwägen heisst ja vor allem, dass wir oft Entscheide fällen müssen, wo verschiedene Lösungen und Möglichkeiten gegeneinander abgewogen werden müssen. Dabei ist es im Leben und im Berufsleben nur selten der Fall, dass die eine Waagschale ganz unten und die andere Waagschale ganz oben ist. Die Waagschalen sind meistens beide in der Luft und vielleicht auf sehr ähnlicher Höhe, wenn wir einen Entscheid fällen müssen. Wer das akzeptiert und das Bild der schwebenden Waagschalen vor Augen hat, der fällt seine Entscheide mit einem zunehmend guten Gespür für die feinen Unterschiede. Wer dieses Bild vor Augen hat, fällt seine Entscheide aber auch mit einer gewissen Leichtigkeit und Grosszügigkeit, nämlich im Bewusstsein, dass es nicht viel braucht, damit sich die Waagschalen auch noch verschieben können.

Wo mit Menschen gearbeitet wird, ist das behutsame Abwägen, sind die Nuancen, sind die Zwischentöne, ist der Grenzbereich besonders wichtig. Darum geht es beim Abwägen. Deshalb möchte ich Ihnen das Bild der Waage auf Ihren Weg mitgeben.

Liebe Diplomandinnen und Diplomanden, als Lehrerinnen und Lehrer haben Sie sich für ein Leben in ganz besonderer Verantwortung entschieden. Über die Verantwortung für sich selbst hinaus übernehmen Sie in Ihrem wunderbaren Beruf auch viel Verantwortung für andere. Für Kinder und Jugendliche, wo es eine besondere Verletzlichkeit gibt, wo es eine besondere Behutsamkeit braucht.

Ein solches Leben in Verantwortung erfüllt und beansprucht gleichermassen. Es erfüllt, weil Sie sich am Morgen nie die Sinnfrage stellen müssen. Was Sie machen, macht Sinn. Was Sie machen, macht für die Kinder einen Unterschied. Dieser Gedanke erfüllt. Er erfüllt jeden Tag aufs Neue. Ein Leben in Verantwortung beansprucht aber auch. Weil man sich dieser Verantwortung und diesem Sinn nicht entziehen kann. Wer Lehrerin oder Lehrer wird, kann nicht Dienst nach Vorschrift leisten. Sie oder er wird sich immer wieder verausgaben, wird viele Extrameilen gehen. Das ist der Teil der Arbeit, den wir Berufung nennen.

Wie kann die Balance – jetzt bin ich schon wieder beim Bild der Waage – zwischen Erfüllung und Beanspruchung gelingen? Was ist zu tun, damit wir uns von den lähmenden Polen «Weltlast» und «Weltflucht» fernhalten können? Es nützt ja nichts, wenn ich die beste und menschlichste Lehrerin bin, aber nach wenigen Jahren ausgebrannt bin. Und auch jene Schülerinnen und Schüler sind zu bedauern, die bei einem Lehrer zur Schule gehen müssen, der sich nicht mehr für sie interessiert, weil er nur noch mit sich selbst und seiner Selbstoptimierung beschäftigt ist. Wie also gelingt die Balance zwischen Überlastung und Ausflucht?

Ich sag’s mit Don Bosco: «Fröhlich sein, Gutes tun und die Spatzen pfeifen lassen!» Don Bosco, der sich im 19. Jahrhundert mit ganzer Kraft für die Turiner Strassenkinder eingesetzt hat, ist ein guter Schutzheiliger für angehende Lehrerinnen und Lehrer.

Fröhlich sein! Lachen Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern … und lachen Sie am lautesten über sich selbst. Ihre Schülerinnen und Schüler werden Sie dafür lieben.

Gutes Tun! Machen Sie Chorprojekte, schreiben Sie Schultheater, bauen Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern eine Mondrakete – und richten Sie bitte ein ganz besonderes Augenmerk auf die Kulturtechniken: auf Rechnen, Lesen und Schreiben. Das sind die Kompetenzen, ohne die sich niemand aus der eigenen Unmündigkeit lösen kann.

Die Spatzen pfeifen lassen! Ein bornierter Vorgesetzter, ein faules Ei im Lehrerzimmer, ein nerviger Vater, der sie piesackt: Ärgerlich, aber im Leben unvermeidbar. Henusode! Pfeifen Sie auf die Miesepeter!

«Fröhlich sein, Gutes tun und die Spatzen pfeifen lassen!» Wer seinen inneren Kompass danach richtet, braucht zwar von Zeit zu Zeit durchaus Urlaub, Spiel und Überfluss. Wer Don Bosco beherzigt, braucht aber keinen Urlaub von der Zeit.

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